Gargoyles sind für mich in ihrer Schattenhaftigkeit ein Symbol des Geheimnisvollen
in unserem Alltag, das in unserer Welt immer weniger Platz hat und dem wir dringend
wieder mehr Bedeutung zukommen lassen sollten. Man findet sie an unzähligen Kirchen
und anderen Gebäuden, sie sind Teil unserer Kultur und unseres Lebens und doch fallen
sie den wenigsten Menschen noch auf. Sie sind wie steinerne Schatten, deren Vergangenheit
wir vergessen haben, die blass geworden sind, weil der Regen ihnen die kräftigen
Farben, die mittelalterliche Exemplare noch trugen, abgewaschen hat und uns ihre
einstige Bedeutung nicht mehr bewusst ist. Mitunter ist es sogar schwer, sie in
der Fülle der Ornamente an gotischen Kathedralen überhaupt zu erkennen – und doch
sind sie da und scheinen aus steinernen Augen die Menschen zu beobachten, die keinen
Blick für sie übrig haben. Somit erinnern Gargoyles mich daran, dass wir achtsamer
werden sollten, um der Welt ihren Wert zurückzugeben. Hinzu kommt noch eine gewisse
Düsternis, ein Hauch des Unheimlichen und Bösen oder zumindest Ambivalenten, der
mich sehr fasziniert und der in der Geschichte der Gargoyles begründet liegt. Die
Funktion der Speier hatte besonders im Mittelalter ja hauptsächlich abwehrenden
Charakter, was auch durch das Ausspeien des Wassers verdeutlicht wird: Nicht nur
das Speien an sich, auch das fließende Wasser besaß nach mittelalterlichem Glauben
die Kraft, das Böse zu vertreiben – zumal dann, wenn es sich um Regen, also „Himmelswasser“
handelte. Zahlreiche Wasserspeier wurden als Apotropaika, Dämonenabwehrer, dargestellt,
wie beispielsweise die meist menschlichen Bartweiser-Speier oder Tiere, die bereits
im Physiologus als Kämpfer gegen das Böse beschrieben werden. Darüber hinaus zeichnen
sich die meisten Wasserspeier durch eine Dämonisierung aus (so wurden Tieren artfremde
Attribute hinzugefügt, ihre Gesten wurden der Natur entfremdet und deuten so auf
ein Dämonenwesen hin, oder einst majestätische Geschöpfe wurden ihrer Erhabenheit
beraubt und so dem dämonischen Reich zugeordnet, wie beispielsweise der Schlappohrengreif
am Kölner Dom), um nach dem Grundsatz similia similibus curantur – Gleiches wird
geheilt durch Gleiches – Dämonen durch ihr Spiegelbild zu vertreiben. Aus diesem
Grund handelt es sich übrigens bei mittelalterlichen Speiern ausschließlich um Unikate:
Durch die zahlreichen Variationen wurde gewährleistet, möglichst viele Dämonen in
die Flucht zu schlagen. Und noch heute personifizieren die Gargoyles für viele Menschen
das Böse. An der Washington National Cathedral prangt zum Beispiel ein ganz besonderer
Wasserspeier, nämlich der Kopf von Darth Vader. Im Rahmen eines Wasserspeier-Design-Wettbewerbs
wurde er mit der Begründung vorgeschlagen, dass Darth Vader in der heutigen Zeit
als Verkörperung des Bösen die ideale Besetzung für einen Wasserspeier wäre. In
GRIM verwischen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Es gibt keine Eindeutigkeit und
ich habe einige Beschränkungen aufgebrochen, die durch Einordnungen in der Forschung
bestehen. Die Gesellschaft der Gargoyles reicht in meiner Geschichte weit über die
Wasserspeier hinaus. Zwar gibt es beispielsweise die Sputatores, den vornehmsten
Wasserspeierclan von ganz Paris, oder den Clan der Mephisti, deren Mitglieder den
dämonischen Gargoyles an Kirchengebäuden am ehesten entsprechen, wobei ich den Grund
für die oftmals abschreckend verzerrten Gesichter neu gedeutet und auf andere Füße
gestellt habe. Aber der Begriff der Gargoyles beschränkt sich in GRIM nicht auf
Wasserspeier, sondern umfasst steinerne Figuren im Allgemeinen. Denn nicht nur Wasserspeier
sind umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen und Unnahbaren. Wer jemals den Apollo
von Belvedere gesehen, den barberinischen Satyr im Schlaf berührt oder die Hand
auf die steinernen Finger des Sterbenden Galliers gelegt hat, der spürt, dass unter
der Haut dieser Statuen mehr liegen könnte als Stein. Dieses MEHR ist es ja, das
die Phantasie begründet und die phantastische von der mimetischen Literatur unterscheidet.
Und wenn man das einmal gefühlt hat, kann man nicht mehr über einen Friedhof gehen,
ohne sich aus steinernen Augen beobachtet zu fühlen, oder unter der Nike von Samothrake
stehen, ohne ein leichtes Flügelrauschen zu hören.